Sunday, January 1, 2012

Du sollst dein Philtrum heiligen




Du sollst dein Philtrum heiligen!




I.

Unseliges Grübeln! Es begann, wie du dich erinnerst, auf einer weinseligen Runde in Taipeh. Verlockt ward ich von einer Frage, die mein Freund, der alte Joga Meister, so geschickt in die Luft geworfen, dass ihr Fragezeichen grad auf der Weinflasche landete. Aus blauem Dunst gefallen, hatte sich das durstige Fragezeichen rasch mit Wein vollgesogen und war, Dank seiner erworbenen Gravitas, unter den Tisch - zuletzt gar in philosophische Gründe gepurzelt.
"Führt die Askese", so lautete die Frage, "führt die Askese zur Anmut?" Rhetorisch war die Frage gestellt. Wer wagt es denn, die geistige Anmut eines Hungerkünstlers zu bezweifeln? Der Jogi jedoch, mein Freund, fragte nicht nach dem Geist allein, sondern frech behauptete er, dass Geistesreinheit den asketischen Körper durchstrahle, ihm trotz, nein - ihm gerade wegen seiner Dürre Liebreiz verleihe. "Dies allein ist wahre Anmut!" So verkündete es der Meister.
Wäre ich nur nüchtern geblieben - doch zu anmutig durchstrahlte der Wein mein Glas. Wäre ich nüchtern geblieben! Ich hätte dem Freund und seinem Fragezeichen gern einiges erwidern wollen. "Wie? Erst vertrocknen dann verklären?" Dies hätte ich gefragt. "Soll denn der Geist sein eig’nes Instrument, den Körper, nicht hegen? Verliebt bespielt er ihn wie der Geiger seine Stradivari. Will er den Baum absägen, den er selbst beklettert? Grünt aus Erstorb’nem Liebreiz? Nein. Hässlich ist der Mumienkörper eines Fakirs, wenn er Apollo gegenüberhockt! Hat Leonardo den Körper verachtet? Im Gegenteil! Seziert hat er ihn, um auch den geheimsten Winkel seines Wesens auszuleuchten. Ja, nur aus diesem Wissen ist ihm der Geist entsprossen." Dies alles hätte ich erwidern mögen.
Selbst heute noch erbaut sich der Kunstsinn vornehmlich am Körper: Ein Klavierschüler, begabter Zeichner obendrein, zeigte mir seine Skizze eines weiblichen Aktes. Er hatte sich da im Atelier mit einem dummen Blickwinkel begnügen müssen und konnte mir zu meinem Kummer nur einen Rücken vorweisen. Doch saftig war der und nicht vom Dörrleib.

So grübelte ich immerdar und lange noch, nachdem sich meine blaue Runde bereits in den seligen Dunst des Vergessens aufgelöst hatte. Besonders aber der skizzierte Rücken hatte mich nicht ohne Anteilnahme gelassen. Nicht der leckere Rücken allein - eher der Akt des Skizzierens selbst: der Künstler, der seinen Geist am Betrachten körperlicher Anmut zu verfeinern sucht. Bescheiden beschränkt sich der Zeichner in seinen anfänglichen Studien auf ein Stillleben mit Leibeszierden: den Ausdruck des Körpers, die Miene des Gesichts. Und der Dichter? Warum, anstatt nur schwatzend zu verstumpfen, spitzt der nicht seinen Stil an der Gesichtsbeschreibung?
Nun wollte ich aber einmal das eigene Schreibtalent testen. Einen Charakterkopf? Mit Elefantennase gar? Den mochte ich mit Leichtigkeit skizzieren. Suchte ich jedoch in meinem Wortschatz nach Begriffen, die mich auch nur ein läppisches Ohr, nur eine Nase kühn greifen ließen, erahnte ich die Ärmlichkeit meines Rüstzeugs. Ja, lachen durfte ich über den Dörrleib des Asketen. Der Leib meiner Sprache erschien mir da, im Spiegel betrachtet, fast noch saftloser. Hätte ich gewusst, dass der wulstige Rand meiner Ohrmuschel "Helix" heißt? Sicher nicht. Wer wüsste das denn schon? Nun - ein Piercer. Ein Piercer wüsste es: Nicht nur die Ohrenlöchelchen lässt er sich stechen. Verzückt durchbohrt der Qualsüchtige auch Anti-Helix, Daith, Tragus, Snug, Conch und Anti-Tragus. Seinen masochistischen Gelüsten hat das Ohr keine Grenze gesetzt. Und der Sprache ebenfalls nicht, denn sie bedient, scheint’s, jedwedes Verlangen und stopft, ohne mit dem Läppchen zu wackeln, ihre Gaben ins Ohr des Feinschmeckers.
Nun prüfe dich doch selbst einmal. Nimm deinen Zeigefinger und lasse ihn von deiner Zornesfalte - die du gewiss leicht findest - auf deiner Nase wandern, von ihrer Wurzel, über den Rücken bis zur Spitze. Hier magst du innehalten, um eine buddhistische Betrachtung einzulegen, eine Kontemplation über das Selbst und seine Nichtswürdigkeit, bevor du die zittrige Nasenscheidewand - septum nasi - hinabgleitest. Jene zarte Rinne, welche die Spitze deines Zeigefingers nun streichelt, und die ihn so sanftmütig zum Amorbogen deiner Lippe hinabgeleitet, dies ist dein Philtrum.
"Helix", "Septum", "Philtrum": goldene Wörter? Haben sie das dichterische Sprachtum bereichert? Eitle Fremdwörter sind’s, aus deren Dörre uns Ungepiercten kaum Bildglanz entgegenstrahlt! Da lob ich mir wohl Aug, Nas, Mund und Ohren, unsere treuen "teutschen" Diener oder, wie’s in der Bachschen Kantate heißt: "Herz und Mund und That und Leben", die den Herren redlich loben. Sollst du den Herrn mit deinem Philtrum preisen?
Nun, einen griechischen Gott, immerhin, magst du mit ihm wohl preisen: den Eros. Philtron bedeutet "Liebestrank", und ein Liebeszauber ist unser Philtrum, denn mit ihm spannt der Cupido, wenn er seine Pfeilchen verschießt, den Amorbogen deiner Lippe. Sein Philtrum spielt mit dem Liebreiz deines Schmollmündchens, und wundern darf es mich nicht, dass manch Menschenhasser sein Philtrum hinter einem Hitlerbärtchen verbirgt.

Doch höre, was sich hinter dem Philtrum verbirgt: Die Legende seines geheimen Ursprungs entspross dem Diskurs eines jüdischen Weisen aus dem dritten Jahrhundert, bekannt als Rabbi Simlai. In der Nidda, einem talmudischen Traktat zumeist Menstruationsrituale behandelnd, vergleicht er den Fetus im Mutterleibe einer gefalteten Schrifttafel (- rabbinischer Gelehrsamkeit allein mag wohl ein derart kauziges Gleichnis entkeimen). "Ein Licht nun leuchtet über seinem Haupt", so Simlai, und der Embryo "blickt und siehet von einem End bis hin zum anderen der Welt". Eine tabula rasa soll die Leibesfrucht nicht bleiben. Unser Rabbiner enthüllt, dass den Fetus in der Gebärmutter "die gesamte Thora von Anfang bis Ende" gelehrt wird. Der Winzling im Leibe vermöchte nun wohl die fünf Bücher Mose und ihre 613 Gebote vor- und rückwärts auf Hebräisch zu rezitieren. Doch ach: "Die Sünde lauert an der Thüre". Sein Himmelsschatz wird unserem gelehrsamen Baby entrissen, bevor ihm die Ausreise gestattet. "Sobald das Licht der Welt es dann erblickt, erscheint ein Engel ihm, legt auf die Lippe ihm den Finger und lässt es die gesamte Thora so vergessen". Auch muss das Baby schwören, stets Treu und Redlichkeit zu üben. Das Brandmal aber, das des Engels Finger hinterlässt, das Stigma - so ward nun die Legende fortgesponnen - ist jene zarte Rinne, unser Philtrum.


II.

Was berührt uns denn an der Geschichte vom Baby und der Thora? Was berührt uns? Gewiss - der Engelsfinger berührte uns, der feurige, denn waren nicht auch wir, du und ich, einst Embryo im Mutterleib? Auch uns ward das Buch der Bücher gelehrt, das Geheimnis der Schöpfung, das Wesen des Alls. Und alles vergaßen wir. Zu schweigen ist uns auferlegt.
Vergaßen wir’s? Verborgen ruht und dunkel unser Schatz unter der Krume des Bewussten. Nur ab und an, in unserem Suchen, da schimmert es von seinem Gold. Es zieht ein Ahnen durch den Sinn. Ein Déjà-vu verflattert sich. Schwer ruht das Kinn auf unserm Daumen, während der Zeigefinger sanft das Philtrum streichelt.
Doch Grübeln hebt ihn nicht, den Schatz. So stürzen wir uns auf die Bücher, ins Büffeln, und sind, wenn wir mit Müh ein paar Scherben gesammelt, entzückt über dies Kleinod. Notdürftig kitten wir die erlernten Bruchstücke zusammen und nennen dieses Trug- ein Weltbild. Und bleibt uns das? Selbst jenes Traumgebild entfliegt. Ach, es vergessen nicht nur Babies ihre Thora! Im Alter noch entwindet sich manch Brocken unserem Wissen: Wie der schweißgebadete, staubumwolkte Sisyphus stemmen wir in gewalt’ger Pein einen Felsblock hinan; doch bevor wir den auf die (adlerumkreiste?) Kuppe stoßen, bevor wir ein wenig verweilen und ins Weite schauen dürfen, entgleitet uns in seiner Schlüpfrigkeit der schamlose, purzelt - wie das weindurchtränkte Fragezeichen zu Beginn meiner Plauderei - hinab, hinab , hinab in den Hades und stürzt sich griechisch, nicht auf’s scharfe Schwert, sondern in den trüben Fluss des Vergessens, der da heißt … (ich vergaß es bereits).
Wie sehne ich mich nach Erleuchtung! Erleuchtung, die wie der Blitz die Gruft des Gedächtnisses erhellt, um meines Geistes Leichen zu erwecken. Verrückt? Fantastisch? Doch wenn den Schatz des Engels Finger mir im Blitz geraubt - Zeugnis ist mein Philtrum - soll ich im Blitz ihn nicht zurückgewinnen? Betrinken will ich mich am Wein der Götterfreude - nicht ins Gedörrte meditieren!
Rosalyn Tureck, die legendäre Bach Pianistin, berichtet von ihrer Blitzerleuchtung: Kaum 17 war sie, und sie versenkte sich bereits in des Meisters große a-Moll Fuge. Urblitzlich fiel Rosalyn da in eine tiefe Ohnmacht. Erwachend, in einem Überaum der Juilliard School, nahm sie die Fuge wieder auf. Und siehe: Sie fugierte wie eine Göttin. Es hatte ihr schlummerndes Genie der Bachsche Geist erleuchtet.
Wenn - wie Rabbi Simlai uns im Talmud offenbart - die gesamte Thora verschlüsselt in dem Geheimbewußten schläft, warum nicht auch das Wohltemperierte Klavier? Warum nicht Beethovens Klaviersonaten? Sind nicht Bach, Beethoven und Bibel hier Avatare nur des einen Gottes, unsres Herren? Weshalb, wenn du im Uterus bereits zur Schrifttafel gefaltet, sollst du noch lernend krümmen deinen Rücken? Erwache! Entkorke sie, die Flasche deines Gottes, und trink von Seinem Wein!

"Erwache!" Dies sollte ich mir als seliger Essayist nun selbst zurufen. Hier schwärme ich von der Erleuchtung in weinumwölkten Metaphern, und wem nützet mein blinder Enthusiasmus? Wie wollen wir Wein trinken, wenn wir nicht einmal den Korken finden?

Und wieder grübelte ich lange. Längst hatte ich den Joga Meister, meinen Freund, vergessen. Im Zwiegespräche mit sich selbst zermarterte sich mein Gehirn, bis seine Hemisphären bald - wie Walnusshälften - auseinanderfielen. Zerklafften wie das zerrissene Philtrum einer Hasenscharte, wenn jener Engel gar zu feurig seinen Finger darauf gepresst.
Gespaltene Lippe - zerteiltes Gehirn: Lag nicht im Pfeffer hier der Hase meines Philtrums begraben? Ist Teilung nicht ein Wesensmerkmal beider, des Labiums, des Cerebrums? War nicht mein Philtrum, diese zwei Grate trennende Rinne, Sinnbild einer Seelenspaltung? Auf das Gesicht geworfen? Gefurcht in meine Lippe vom englischen Finger? Vergessen: Ist das nicht Spaltung, nicht Zerfall, ein Bruch in Stücke? Zerbrochen hat der Engel mir den Schatz - nicht ihn geraubt!
Schärfer nun fasste ich in der U-Bahn Gesichter, die mir gegenübergrübelten, ins Auge. In der Tat: Ein rassiges Philtrum von ausgeprägter Kerbe verlieh dem Antlitz kräft’geren Ausdruck, Betonung, Schnitt und Frische. Die Augen im Gesicht indes unruhig wie Mäuse huschten sie umher, hier- dorthin im Waggon herum. Die mit geflachter Rinne nun, sie lauschten selig vor sich hin.
Was durfte ich folgern aus der pfeffrigen Schärfe meines Beobachtens? Dass es nichts zum Rütteln - selbst nach strengstem wissenschaftlichen Ermessen nicht…, jawohl: dass nicht zu rütteln war am Baume meiner Erkenntnis. An meiner blitzartigen Einsicht, dass der Schlüssel zu meinem Schatz das Philtrum war. Das Philtrum ist der Flasche Korken: Dies war, in einer Nussschale, die Blume meiner Erkenntnis und ihren Samen sollte ich in jene zarte Furche säen - mein Philtrum.
Maus und Hase? Pfeffer, Baum, Schatz, Nuss und Flasche? Blume, Samen, Furche? Schon wieder - ach, schon wieder verspinne ich mich, unkritisch, in der Poesie meiner gemischten Metaphern, anstatt sie säuberlich, fein-fein und rational zu scheiden! Ja, rationales Trennen, Planen, Denken: Dies verwaltet die linke Hemisphäre meines Denkorgans. Rechts aber wiegt sich die Poesie in meines Hirnes lyr’scher Hälfte. Wie bin ich doch zerrissen, unselige Gestalt…, zerrissen mein Talent zwischen diesen beiden Sphären, ererbt die linke vom Vater, von der Mutter die rechte! Selbst der genialste Chirurg kann sie schwerlich zusammenschweißen, meines Brägens Hälften; nein - nur bestenfalls sie gar säuberlicher noch voneinander scheiden mit der kritischen Schärfe seines Skalpells. Zwei Hälften wohnen, ach, in meiner Walnussschale!

Doch wart’: Ich hielt ja den Schlüssel in der Hand, beziehungsweise über dem Amorbogen der Lippe: mein Philtrum nämlich. Gelänge es mir, seine beiden Rippen streng im Legato zu verknüpfen, wie ich als Pianist die Töne verbinde, eine Brücke zu schlagen vom linken Grat des Philtrums bis hin zum rechten; nun, wenn mir dies gelänge, hätt’ ich ihn überlistet, den Finger jenes Engels. Die Teile einer Ganzheit, unseres Körpers zum Beispiel - Hand, Fuß, Hirn und Herz - sind Blutsverwandte und erfreuen sich eines regen Verkehrs. Erkrankt der eine, so steckt er unweigerlich den andern an. Und ist der andre kreuzfidel, erheitert das den einen. In Indien zeigte mir ein Joga Meister einst, wie ich die Fingernägel aneinanderreiben solle, um meinen Haarwuchs anzuregen (ich vergaß es allerdings und bin beglatzt darum). Das Große, scheint’s, herrscht und regiert nicht durch sich selbst allein. Anregen, ja provozieren lässt es sich vom Kleinsten. Im Mikrokosmos versteckt schlummern Teilchen, die wie Impfkristalle wirken. Zu schweigen von der Musik, wo die Veränderung des winzigsten Tönchens einem Thema in seiner harmonischen Folge ganz neuartige Färbung verleihen - und so letztendlich die symphonische Dichte eines gewaltigen Werkes anregen mag.
Würde ein Dreh am Philtrum den Motor meines Gehirns anspringen lassen? Wär die Vergesslichkeit besiegt? Was verlöre ich bei einem Experiment?


III.

Gegrübelt hatte ich genug. Es galt, zur Tat zu schreiten. Ich beschloss, die klassische Medizin zu meiden, und wandte mich an die verehrungswürdige Zunft der Bodypiercer. Sie hatte sich bei meinen Wortschatzbereicherungsstudien (ein neues Wort!) als die gelehrteste erwiesen. Hierbei gestehe ich (…pianissimo…), dass ein abwegiger Hang, ein mir eigentümliches Schmerzverlangen, meinen Widerwillen gegen das Metier gemildert haben mag.
Doch zur Sache: Das Piercing ist eine uralte und weitverbreitete Körperkunst. Buddha piercte sich. Es piercte sich Pharao. Im Alten Testament gebietet uns der Herr durch Mose: Stell deinen Sklaven an den Pfosten und mit einem Pfriemen durchbohre sein Ohr! Heute erfreut sich dies Künstler-Gebot nicht nur bei Sklaven eines robusten und weltweiten Comebacks. Selbstverständlich kennen Piercer das Philtrum. Bei seinem vertikalen Durchstechen, dem "Medusa", wird die Schraubkugel des Lippensteckers in die philtrale Rinne gesetzt. Sie ruht in ihr wie eine Perle
Dies indessen reizte mich nicht. Mich lockte jenes seltene horizontale Piercing des Philtrums. Bei diesem wird das Gewebe zwischen Lippe und Nase horizontal durchstochen; ein Stift, der Barbell, wird eingesetzt, und die beiden Gewindeenden mit Schraubkugeln verschlossen, so dass an der linken und rechten Seite des Philtrums je ein funkelndes Perlchen aufglitzert. Mit diesem scharfsinnigen Piercing also wären die beiden Grate im Legato verbunden, wenn schon nicht durch eine Brücke, so doch mit einem Stollen, der, beide "Bergrücken" tunnelartig unterminierend, sich in den östlicheren bohrte, um beim westlicheren wieder auszutreten.

Wie aber im verdreckten Taipeh einen sauberen Piercer finden? Unbedingt mied ich Ximending und seinen schmierigen Nachtmarkt, in dessen schmierigen Piercing Studios der Kunde mit Ohrlochpistolen zerschossen wird. Dann fand ich Piers Tatuin - so sein Künstlername - einen kanadischen Piercologen indianischer Abstammung. Der verfügte über eine Prachtglatze nebst tätowierten Trutzmuskeln; sonst aber war er ein netter Kerl, offen, durchaus schwärmerisch, versiert auch in mancherlei und dunklen Künsten.
Ihm vertraute ich mich an und entdeckte ihm mein heiliges Begehren. Rasch entzündete sich seine Begeisterung an meiner Idee. Und geniale Ratschläge gab mir Piers: Nur wenige hypoallergene Metalle kämen für den extra langen Barbell Stift in Frage und, wenn ich mich für eine Niobium-Titanium Legierung entschiede, profitierte ich zusätzlich von ihrer märchenhaften Supraleitfähigkeit. Ach, lebhaft - allzu lebhaft leider - stellte ich mir den märchenhaften Einfluss dieser Legierung auf mein Philtrum und hierdurch auf die Wiedervereinigung meiner Walnusshälften vor. Grüne Jade müsste ich für die beiden Schraubkugeln wählen, denn seit Urzeiten gilt Jade als das Symbol der Reinheit und der Serenität.
Wichtiger noch war es, dass Piers mich über das geistige Wesen des Piercings aufklärte. Die Qualität des Rituals selbst, die Essenz der Zeremonie, schien zwingend. Ihre Dichte war es, die sich kraft der Leitfähigkeit des Materials auf’s Gepiercte übertrug, um von dorten in spirituelle Gefilde zu transzendieren. Zur vorbereitenden Seelenläuterung empfahl mir Piers die Meditation. Oh, Ironie der Vorsehung! Sollte ich nun doch noch zum Dörrobst vertrocknen? Kurz vor dem heiligen Akt aber - so Piers - möchte ich mich ein wenig am Saft der Datura berauschen, jener Engelstrompete, die unsere schwülen Sommernächte mit giftiger Ausdünstung durchwabert. Weiß wie Leichenhemdchen sind ihre zylindrigen Blüten - Engelstrompeten.

Der Tag meiner Tortur war gekommen. Dass ich ihm, gestärkt von meiner treuen Meditationsübung, mit Gelassenheit entgegenblickte: gern möchte ich’s erzählen - wahr wär’s nicht. Ich tappte in den dunkelnassen taiwanischen Dezember, den achten, denn dies war der Tag meiner Empfängnis, den Piers astrologisch aus den Ephemeriden berechnet. Die Dunkelheit des Tatuin Studios war von Lavendelduft und tibetanischem Mönchsgesang geheimnisschwer durchschwängert. Die trutzigen Piersschen Arme pressten mich behutsam in den Diwan, nachdem sie mir ein Glas Lavendeltee mit Daturatröpfchen, dem Gift der nachtschattigen Engelstrompete, offeriert hatten. Dunkel murmelte sein milder Bass, als Piers meine Haut desinfizierte, Ein- und Ausstichstelle markierte. Meine schwankenden Empfindungen - geheimes Schmerzverlangen, dann wieder Furcht vor der Pein - verschmolzen in gedämpfter Erregung. Wann begann das heilige Ritual, das Piers mir versprochen? Gewichtiger als zeremonielles Rankenwerk jedoch wöge wohl die Schmerzdichte meines inneren Empfindens.
Plötzlich gleißendes Licht. Leichenweiß drang eine Chirurgenmaske in mein Gesicht. Ein Latexhandschuh mit langer, langer Nadel schob sich unerbittlich ins Blickfeld wider meine Lippe. Der glühende Finger des Engels, der weichem Babymund Sein Mal gebrannt, durchstachelte das zarte. Mich stach ein süß vertrautes Weh. Verklärt erschien mir die Glatze meines Peinigers wie in einer Aureole. Das gleißende Weiß dagegen seiner Maske schrie auf, mein Auge blendend, ein Trompetenstoß durchschmetterte mein Ohr, betäubend durchfieberten lüsterne Daturadünste meine Nase. Da war es mir, als wenn der Diwan unter mir wegsackte, sich in den Hades und in die Lethe stürzte; mein Leib entglitt, stets rascher und wilder im Raume kreiselnd, bis mich die Ohnmacht verschluckte.
Erwachend sah ich mein Gesicht im Spiegel und da hatte Piers bereits die Jadeperlen aufgeschraubt. Mein Sinn für’s Schöne indes war exquisitem Schmerz gewichen. Kaum hörte ich die hygienischen Vorschriften, die Piers mir in mildem Bass erteilte, während er mit einem Q-Tip meine Wunden betupfte. Ich zahlte, glaube ich, und tappte wieder auf die nasse Straße hinaus.

Kälte, Neugier besiegten bald den Schmerz. Ich spannte den Schirm auf und öffnete, nach der Thora suchend, die Schleusen meines Unbewussten. Doch wehe: Nicht einmal das winzigste hebräische Fragezeichen traute sich ans trübe Licht Taipehs. Tohu wars und bohu in meinem Kopfe. Sogar mein liebes Lutherdeutsch versagte, denn unmittelbar nach den beschwörenden Worten "Es werde Licht! Und es ward Licht" tappte ich im Dunkeln, und der schwebende Geist fiel in die Finsternis des Vergessens.
Du magst dir wohl vorstellen, dass ich nicht wenig empört war. Ja, so verwirrte es mich, dass ich fast in die falsche U-Bahn gestiegen wäre.
Daheim angekommen überhörte ich die stechenden Schreie meiner Gemahlin, die nie zuvor ein vertikales Philtrum Piercing - geschweige denn ein horizontales - erblickt haben mochte. Ins Klavierzimmer rannte ich, hockte mich an meinen Steinway, begann kaltfingrig zu klimpern in der eitlen Hoffnung, vom Bachschen Geiste erleuchtet zu sein. Doch kaum vermochten sie - die kalten Finger - sich durch Sein kleines E-Dur Präludium aus dem ersten Band zu stümpern. Bei der Fuge strauchelten sie bereits im Thema.
Übel war mir. Verwirrt war ich und weinte. Voller Verzweifelung ließ ich meine Stirn auf die Tasten fallen. Die Dissonanz erweckte meine Vernunft. Wie kindisch war es doch, eine derart blitzliche Verklärung meiner Walnusshälften zu erwarten. Zeit musste ich dem Niobium-Titanium Stift geben, seinen Zauber im Philtrum zu entzünden. Mein Schätzchen mochte noch ein Weilchen schlummern.


IV.

Schlecht schlief ich die Nacht. In unruhigem Schlummer zerwühlte ich das Bett und in wirrsten Träumen piercten Teufelshörnlein und Engelsfingerchen wechselseitig meine seltsamsten Körperteile.
Früh erwacht stolperte ich in die Küche und in den Kaffee. "Gabi!" krächzte ich heiser nach meinem Weib, aber warum nur? Gabriele heißt sie nicht sondern hört auf den lieblichen Namen "Chang Bongjia". Hatte mich Gabriel, der Erzengel persönlich, gepierct? Nun - "Ga Bi" ist Taiwanesisch für "Kaffee" und es mochte dem Ei meines Unbewussten entschlüpft sein.
Und dann beim Frühstück. Auf scheuen Sohlen schlürfte meine Frau in die Küche. Entsetzen über meinen neumodischen Schmuck flatterte noch in ihrem Auge. "Bring den Zucker!" rief ich. Wollte ich rufen. Potzblitz! Welch schräge Klänge entmeckerten sich meinem Munde! Dies war nicht meine Stimme. Auf fremder Frequenz schräkelte sie. Überraschender noch die Wirkung auf meine Gemahlin, die unter den Tisch gepurzelt. Eine Teufelsstimme habe sie wüst verflucht - in akzentfreiem Taiwanesisch: Das erzählte sie mir noch unterm Tisch.
Ich hub an, meine Unschuld zu beteuern. Ich spreche kein Taiwanesisch. Doch fast purzelte ich selbst vom Küchenstuhl. Wie eine unzücht’ge Oboe im Staccato, wie ein taiwanesischer Taxifahrer, rülpste ich los. War ich es überhaupt? Die Stimme entspross nicht meinem Mund. Aus tieferen, liederlichsten Gefilden quoll sie zu mir empor. Dem Hades mochte sie entkrächzt sein. Kein Wort verstand ich mit Ausnahme einer Vulgarität, die sich auf die Anatomie meiner Schwiegermutter Chang Taitai bezog.
"Nimm das verdammte Ding aus Deiner Nase -" kreischte meine Gattin, "ist schon entzündet!" und ihr Organ tönte ebenso charmant wie meines.
Nase? Wieso Nase? Ich verzichtete gleichwohl auf eine Erwiderung und schlürfte meinen Ga Bi.
Was war passiert? Hatte mein Experiment versagt? Im Gegenteil: Zu reich war der Erfolg. Meinen Schatz hatte ich geborgen. Sein Gold jedoch war von fremder Prägung. Nicht einmal Gold schien diese unwürdige Legierung. Ich war auf Ekles gestoßen: Faulig schwärte Widerwärtigstes aus seinem Inneren. Verborgen unter der Krume Dr. Jekylls schlummerte das Ungeheuer - Mr. Hyde.
Eines mäßigen Mandarins bin ich mächtig. Nicht leiden dagegen mag ich den garstigen Staccatodialekt Taiwans. Doch siehe: Nach Jahrzehnten im Lande mussten ihn die durstigen Schwämme meines Unterbewusstseins aufgesaugt haben. Mein Seelenkern war von den Flüchen des wildesten Lokaljargons durchschwängert und tief in der Gebärmutter meines Erinnerns hatte sich die vermaledeite Leibesfrucht, mein "Schätzchen", wie ein lauerndes Geschwür eingenistet und mit dem Wein…, nein, mit dem gift’gen Daturasaft einer unflätigen Fäkalsprache vollgesogen. Jetzt war sie gepierct, die stinkende "Schatztruhe", vom Finger Gabriels. Die Gruft stand offen und meine Fledermäuschen flatterten ins Freie. Entkorkt hatte sich die Giftflasche. Ich war nicht besser dran als ein fluchender Tourette-Patient. Schlimmer noch sogar: mein eigenes Lästern klang mir fremd. In Zungen sprach ich - in Schmutz-Zungen. Besessen krächzte ich, als wäre ein heilloser Geist über mich gekommen, oder - wenn du mir eine medizinische Diagnose erlaubst: Ich litt an der Xenokoprolalie, dem zwanghaften Wiederholen von vulgären Ausdrücken in einer fremden Kotsprache.
Sehr ungünstig war die Prognose: Jeden Moment konnte mein Bewusstsein eine permanente Inversion erleiden. Chronische Symptome, finale Kondition erwarteten mich. Ja, vergiften würde ich mich und die Gase meiner Fäkalsprache den lebendigen Körper wie bei einer Nekrose verfaulen lassen. (Zu schweigen vom fatalen Schlag auf Weib, Kind und Kollegen.)
Was blieb mir übrig? Ich schraubte die Jadeperlchen ab und entzog dem Fleisch meines Philtrums seinen Stachel. Mehr schmerzte mich das als der Einstich. Ich blutete. Tränen der Enttäuschung entquollen meinem Auge, die jedoch rasch verdunsteten, als ich den delikaten Klang meiner eigenen Stimme vernahm, dieser unnachahmlichen Stimme von dem scheuen Timbre eines deutschen Klavierprofessors.
Ich sank aufs Knie und pries meinen Erzengel, der mich in Seiner grenzenlosen Güte aus heilloser Not errettet. Gleichzeitig hatte mich mein Gabriel Demut gelehrt. Nicht ohne Grund ist es uns verboten, vom Baume der Erkenntnis zu essen. Nicht alle Rätsel harren der Lösung und manch seltener Schatz bleibt lieber ungeborgen.
Zwei Stigmata, zwei rote Punkte über meiner Lippe, gemahnen mich: Du sollst dein Philtrum heiligen!


back to home